Poesie und Quantenphysik

Gespräch mit Meinhard Michael (die horen, 2012)

Meinhard Michael: Ihr Buch ist ein kunstvolles Spiel mit der Zeit – in der Welt, zu der die Liebe und die Quantenphysik gehören. Und sie eröffnen mit einem Paradox: der Sequoia-Rechner – ein geplanter Super-Rechner – »ging« ans Netz? Doch wohl nicht, als Sie den Text schrieben?

Angela Krauß: Nein, damals wurde er angezeigt als derjenige, der alle übertrifft. Als der Schönste Fall ein Jahr später erschien, war der Sequoia-Rechner bereits überholt. Der Überholte, er hat unsere Aufmerksamkeit verdient. Wir teilen doch alle sein Schicksal.

Die Textstruktur aus nicht »zeitlich-normal« geordneten kurzen Splittern entsteht folgerichtig aus der veränderten Erzähl-Zeit?

Sie entsteht aus der erfühlten Seinsstruktur. Was und wie wir erleben, hat mit »zeitlich-normal« ja recht wenig zu tun. Automatisch stellen wir kurz danach, oder schon während des Wahrnehmens, bereits »Ordnung« her. Zeitlich-normal, das ist so eine Fiktion, die uns in der Realität aufrecht-, aber auch festhält. Ein Laufstall sozusagen. Die Kunst bricht unsere Vereinbarung, was Realität ist, auf. Oft mit subtilsten Mitteln, sei es nun Erzählzeit oder Farbfrequenz. Wahrer Kunstgenuss ist letztlich Freiheitsgenuss.

Ein Raum von Zeiten und Orten: dazu gehört das Kindheits-Geschehen in Karl-Marx- Stadt, heute Chemnitz. Die Ausgangslandschaft ist also die von Ihnen bekannte. Mir scheint das Buch in der Gesamtheit gleichwohl weniger regional als alle früheren, und vollkommen unostdeutsch. Wie bewerten Sie das selbst?

In gewissen Sinne erstaunt es mich, dass in meinen anderen Büchern Orte vorkommen. Was ich sagen will, meint letztlich nicht die Orte. Es gehört aber zum Koordinatensystem, wir machen unsere Erfahrungen schließlich in Zeit und Raum. Was ich fühle, ist die Polarität an sich, und die erste gesetzte Polarität waren der erzgebirgische Kur- und Uranbergbauort Schlema und eine Villengegend in Chemnitz/Schönau. Meine Kindheitsorte der ersten sechs Lebensjahre. Diese beiden Szenerien haben mich geprägt. Entscheidend ist aber, glaube ich, meine Prädisposition, eine enorme Empfänglichkeit für Gegenpoliges und die daraus entstehende hohe Energie. Ost-West, eine Potenzierung von Schlema-Schönau, ist ein Kraftfeld, das ich in mir trage, so fühlt es sich an. Es geht aber nicht um Ideologie. Es hätten auch Hund und Katze sein können, verstehen Sie? Insofern habe ich im letzten Buch auf die Benennung dieses Koordinatensystems verzichten und im Leser einen Vertrauten sehen können, dem ich das eigene ABC nicht immer neu erklären muss. Er weiß, wo die Inszenierung stattfindet, denn er ist Erdenbürger wie ich.

Dazu trägt vielleicht die zu Recht und unisono gefeierte »Leichtigkeit« des Textes bei. Sie schreiben »abstrakter«, in kürzeren Abschnitten und lyrischer als früher. Waren diese Abschnitte ursprünglich länger und Sie erleichtern sie immer mehr? Oder schreiben Sie quasi sogleich zum lyrischen Bild/Klang hin?

Stellen Sie es sich bitte so vor: Ich frage mich, was ist das, was da gewesen ist. Da könnte bei einem Chemiker vielleicht eine Molekularstruktur kommen. Bei einem Musiker ein Klanggebilde. In mir ist immer die Frage: Was ist das, was gerade i s t? Immerzu, als sei ich damit auf die Welt gekommen. Das geht einher mit einem Zustand von Nervosität, Anspannung, Zuspitzung. Das alles noch ohne Form. Eine aufreibende Zeit, ich muss auf mich achten. Die Sinnlosigkeit des Lebens scheint mir ausgemacht, gleichzeitig die Aufgabe so schwer, schier unlösbar. Und dann findet sich zögernd ein Ausdruck. Eine Passage. Daran ist nichts zu ändern, geschweige denn zu kürzen. Es ist ja immer schon der Extrakt dessen, was ich ausdrücken möchte. Wie im Gedicht. Meine 100 Seiten sind geschrieben wie ein Gedicht und wollen so gelesen werden.

Öfter haben Sie Bücher als »innere« Erzählungen angelegt. Näher am Schönsten Fall könnte der Sommer auf dem Eis sein, konstruiert als eine deutliche Vision der »letzten Sekunden«, und die Zeit des Quantenraumes wird auch dort mit der Liebe in Verbindung gebracht. Im Schönsten Fall ist »Quantentheorie« nun gewissermaßen selbst Thema – mit »Weltgebäude« und »Liebe«?

Die Zuständigkeit für Themen gebe ich an Sie zurück. Ich darf es nicht soweit kommen lassen, etwas wie ein Thema benennen zu können. Dann bräche mir die gesamte Imagination dessen, was ist und was sein könnte, zusammen. Ich darf nicht wissen auf diese Art, ich muss wissen auf andere Art. Eine, die das Diskursive auslässt. Ich muss wissen, als ob ich einen zweiten Körper hätte, der aus diesem Wissen gebildet ist, aber keine Sprache hat. So etwa kommt es mir vor.

Manche Autoren antworten, wenn man ihnen eine Interpretation anbietet: Aber ich habe doch nur eine Geschichte erzählt …

Aber ich will doch keine Geschichten erzählen! Ich habe auch keine. Ich möchte nicht mal, dass es welche werden, obwohl das immer wieder eintritt. Wenn ich mich frage, was es ist, kann die Antwort niemals eine Geschichte sein. Eher eine Art bewegliches Spiegelkabinett, die Elemente suchen nach ihrer Verwandtschaft und finden sie, ein fließendes, gleitendes Hologramm. Ein Ganzes, aber ohne Anfang und Ende. Etwas Strudelndes, Wirbelndes. Ich habe keine Geschichten; ich lebe ja noch.

Der Begriff des Universums fiel schon. Sie kennen sich aus in der modernen Physik. Immerhin gerät da einiges durcheinander. Sie irritiert das scheinbar weniger, als es sie anregt.

Das ist so: Mit Vierzig erhielt ich durch den Mauerfall das Geschenk einer nochmal ganz neuen Welt. Die hielt mich zehn Jahre lang leidenschaftlich beschäftigt. Aber dann kam das Hubble Teleskop. Und ich war angekommen, aufgehoben, zu Hause. Alles, was ich schon als Kind gefühlt hatte, war richtig. Ich lese die Quantenphysiker aufatmend, mit ganzem Herzen: Es gibt also eine Zukunft! Sie findet nicht auf Baumärkten, in Steuerdebatten, auf Ferieninseln oder anderen Entzauberungsinstituten statt – sie ist so weit und rätselhaft wie der tiefe farbenprächtige Raum, der da draußen zu sehen ist.

Das Buch vermittelt aber eher den Eindruck der Verunsicherung durch Weltgeschehen, Technikdominanz …

Ich selbst, im Gegensatz zu meiner Ich-Figur, bin nicht verunsichert. Das gilt übrigens für alle Bücher, meine Figur setzt in ihrer Suche weiter unten an, das kann sie nur, weil ich schon eine Ebene weiter bin. Ich bin nicht unsicher, dass die Weise, wie wir unseren Planeten herabwirtschaften, wachstums- und technikbesessen und ethisch unterentwickelt, in den Kollaps führt. Nicht irgendwann, sondern demnächst. Das ist insofern eine altersabhängige Einsicht/Rechnung, weil ich schon Jahrzehnte beobachte, wie mit dem Herabwirtschaften fortgefahren wird ungeachtet von Protest und Gegenmaßnahmen. Ich habe keine Illusionen. Aber ich bin von Natur aus ein liebender Mensch. Ich kann nicht hassen. Meine Illusionslosigkeit ist von kraftvoller irrationaler Hoffnung. Gott sei Dank.

Es gilt also, den »Augenblick« zu leben; Sie haben ihn seit langem protegiert, als Unverstehbares zwischen Vorher und Hinterher usw. Auch als Moment der plötzlichen Offenbarung von Kunst, von Welt, einer Art poetischer Parusie. Vermutlich war ihre Ästhetik ausgeprägt, bevor Sie die quantenphysikalischen Freiheiten, die Potenzialitäten kennenlernten?

Ja, sie ist einem eingeprägt, vermute ich, jene Ästhetik der eigenen Struktur, die man über die Welt wirft, um sie zurückgespiegelt zu erkennen. Auch ein weites Feld. Aber die Potenzialitäten als Zustand – wir haben doch alle gelernt, sie als Vorstufe zu Entscheidungen zu sehen, oder? Dass Potenzialität das Universum durchdringt, es letztlich ist, als immerwährende Unentschiedenheit oder schöner gesagt: Schwebe – das provoziert die herrschende Weltanschauung aufs Äußerste. Unser aller Alltagskleinkram eingeschlossen. Es geht offenbar darum, dass das Ganze nicht zu fassen ist. Jedenfalls nicht mit unserer Art Zugriff.

Der Kontakt zur Physik hat Tradition. Friedrich Schlegel: »Willst du ins Innere der Physik dringen, so lass dich einweihen in die Mysterien der Poesie.«Ihnen gelingt es umgekehrt, in dem »Wahnsinn« des Nicht-Verstehbaren der Physik Poesie zu entzünden. Was ist Ihr wichtigster Begriff dafür – der »Zwischenraum« vielleicht?

Oh, das ist so treffend mein Begehr, dass ich es begriffslos stehenlassen möchte.

Ich habe die Mausefalle gesehen, resümiert die Erzählerin ihre Kindheitserfahrung, als Onkel Roch das minimalste Quadrat zeichnet. – Ich finde »Mausefalle« in diesem Zusammenhang bei Schopenhauer. Als unwirsche Kritik am Beweis des Satzes des Pythagoras durch Euklid, in den man hineintappe wie in eine Mausefalle. Ist das der Gedankenraum, aus dem es in den Text kommt? Was hat das Mädchen gesehen?

Das im Suchraster eingegitterte Nichts.

Es gibt in Ihren Büchern mehrmals »Erweckungs-Szenen«, bei einer Figur im Gras liegend beispielsweise, oder mit Onkel Roch bei der Geometrie: Sind das Sie, persönlich?

Mir kommt das ganze Leben wie eine große Erweckungsszene vor, allen Ernstes. Mit Verzögerungen allerdings, die gilt es offenbar zu meistern. Das sind auch Zwischenräume, die Verzögerungen. Die können Jahre, Jahrzehnte dauern. Aber das wird dann erst von hinten zu sehen sein.

Dieser »Punkt« wird danach und vermutlich auch davor vielmals umspielt. Es ist der Archimedische – mit dem Descartes die ganze Welt umschmeißen zu können behauptete. Wie wir wissen – Sie nennen ihn wohl auch einmal den verlorenen – , gibt es ihn nicht. Was – in ihrem Weltgebäude – gibt es stattdessen?

Die Suche/Sehnsucht nach dem Punkt. Im Kern des Seins ist nichts. Sehnsucht, Begehren, also Lebenstrieb, von dieser Kraft lässt sich doch niemals auf ein Etwas schließen. Dieser alles übertreffenden Kraft entspricht nur das Nichts. Eingebaut in diese Beziehung ist natürlich die Überzeugung von einem Etwas. Weil sie wahrscheinlich sonst nicht auszuhalten wär.

Dass das Mädchen – auch erwachsen – in Trance fällt, ist schnell gelesen im Grunde ein Klischee – Sie haben gewiss ein anderes Motiv für die Trance als Missachtung weiblicher Intelligenz …

Trance, das ist eine Figur, die sie immer wieder einnimmt angesichts erahnter Großartigkeit/Unfassbarkeit, sie ist überwältigt, gerne auch mal, um dem männlichen Großartigkeitsanspruch ein befriedigendes Gegenüber zu bieten. Das Spiel muss ja weitergehen. Wer lächelt dabei? Die Autorin, die das Spiel spielt und weiß, dass auch ihre Figur das Spiel kennt, sich aber naiv stellt, was sie muss, wegen ihrer Erweckungssehnsucht. Wir beide sind ein Paar, ich glaube, aus dieser Erotik kommt alles, was ich zustande bringe.

Ich finde, dass Sie die philosophische, mathematische, physikalische Intelligenz ihrer Bücher sehr gut verstecken. Es macht ihnen vermutlich einen »höllischen« Spaß, die Textebenen ineinander zu verschmelzen? Und eigentlich halten Sie für überflüssig, sie – zum Interpretieren, aber das ist ja auch Verstehen – zu trennen?

Zu trennen? Dann zerfiele alles. Um das zu verhindern, ist mir der Preis des einen oder anderen Missverständnisses nicht zu hoch. Das gilt doch für den Umgang mit Erscheinungen der Kunst, wie für die des Lebens: Erklärung erhellt bis zu einer bestimmten Grenze, danach wird es nicht dunkel, sondern falsch.

Sie sind also nicht komplett »against interpretation«?

Oh nein, nein, jeder möge, wie er mag. Gewiss gibt es als Unterformation des Lesegenusses auch den Interpretationsgenuss, eine Art Zerlegungsrausch? Er wäre der Gegenpol zur Trance, die bei mir die Voraussetzung des Verstehens ist. Beim wissenschaftlichen Vorgehen hingegen, so scheint es mir, verliere ich alles. Vor allem die Lust am Leben. Weil ich dann einen lebendigen Organismus/das Geheimnis schlachte. Ich will aber in das Geheimnis hineingehen und mit ihm eins werden, um zu verstehen. Das ist keine Wertung, sondern einfach der Unterschied zwischen Wissenschaftler und Künstler.

Sie imaginieren eine Reihe paradoxer »Weltgipfel«, die zwar mit dem ganzen Text verwoben sind, doch bauen Sie damit eine eigene »Achse« – und verwandeln das vermeintlich Wirkliche ins Surreale. Die Menschheitsführung erscheint unfähig, Bedrohung abzuwenden: Sind Sie, was das angeht, ausgesprochen pessimistisch?

Von den Weltgipfeln hatte ich folgende Vorstellung: Als führte durch ein Aquarell eine punktierte Spur aus Metallicfarben, die alles andere merkwürdig beleuchten, wobei Metallicfarben etwas aufrufen aus der Kindheit, Rummelplatz, Glitzerpapierrosen zum Abschießen, als man noch nichts begriff, aber das Ziehen im Herzen in eine unbekannte glitzernde Papierrosenzukunft spürte, das hatte ich als Gefühlspartitur vor mir – wenn ich jetzt so weiterrede, will ich sofort wieder ans Werk … Ich fröne einer Weltsicht, die ich nur poetisch am ehesten ausdrücken kann. Das ist dieses Buch, der schönste Fall. Ich höre oft von Lesern, dass sich etwas überträgt, das lange über die unmittelbare Lektüre hinaus an- hält, das einen irgendwie anhebt. Nun, mein Optimismus kann das nicht sein. Ich bin, wie gesagt, was die weltweite Sachlage betrifft, ohne Illusionen. Aber es gibt eben nicht nur die Sachlage. Insofern ist die Sachlage selbst auch eine Illusion. Aber ich bin, wie auch schon gesagt, ein liebender Mensch.

Auf der Ebene zwischen Karel und der Erzählerin ist das Finale ein Scheitern, die Erzählerin zieht in eine Burg. Nur in sich, in ihrer zu beschützenden Seele, findet sie, was sie sucht?

Vor allem am Schluss will ich den Leser sein eigenes Delta finden lassen. So wird jeder diesen Schluss anders erleben. Auch ich selbst übrigens lese ihn zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich. Darum möchte ich auch bitten, sonst wäre in der Zwischenzeit ja nichts mit mir geschehen.

Man könnte es negativ lesen: Was macht ihre Heldin ohne Liebe in der Burg? Oder auch als poetisches Modell: aufgehoben in der Schlossburg der Kindheit?

Weder noch. Für uns alle geht es um Transformation. Kennen Sie diese venezianischen Palazzi mit prachtvollem oder auch unauffälligem Eingang, dunkler großer Halle, Säulen, und wenn man nach hinten hinaustritt, steht man mit den Füßen halb in den Wellen der Lagune in blendendem Licht? Wär das ein Weltgebäude?

Ein schönes, gewiss. Apropo Schönheit und Architektur, Maß, Mathematik. Wenn ich ein Computerprogramm in Ihrem Text, in seinen Motiven und Worten, nach Rhythmen der Fibonacci-Reihe suchen lassen würde: würde es fündig?

Es wäre der höchste zu vergebende Preis. Ich wünsche ihn mir!

Dann auch noch eine Physikfrage: Wenn Sie ein Elementarteilchen wären, welches wären Sie?

Das Nichts, das alle enthält.