Die Realität zum Schweben bringen

Gespräch mit Jörg Magenau (Der Freitag, 1995)

Der Freitag: Sie gehören zu der großen Zahl von Autorinnen und Autoren aus der DDR, die am Johannes-R.-Becher-Institut in Leipzig Literatur studierten. Kann man das Schreiben denn erlernen?

Angela Krauß: Mit diesem Gedanken bin ich nicht hingegangen. Ich war zur für mich richtigen Zeit dort. So ein Studium mit Werkstattcharakter muß am Anfang stehen, wenn man sich noch ausprobiert und noch nicht auf vollkommene Ergebnisse aus ist. Ich habe während dieser Zeit wenig geschrieben, mehr gelesen und mich umgeschaut. Ich kann weder ein Urteil über eine Gesellschaft noch über eine Hochschule fällen. Das hängt immer mit Menschen zusammen, die mich berührt haben. Wenn man etwas Künstlerisches lernen will, vollzieht sich das übers Lebenlernen. Sicher könnte ich mir eine Schule vorstellen, die das in noch intensiverer Weise erfüllt, aber für die damaligen Möglichkeiten in der DDR bot das Literaturinstitut recht viel.

1984 erschein Ihr erstes Buch »Das Vergnügen«, eine Erzählung, die das Leben in einer alten Brikettfabrik in der Nähe von Leipzig beschreibt. Wie wurde »Das Vergnügen« in der DDR aufgenommen?

Trotz einer größeren Ankündigung im Sonntag, die in Richtung Arbeiterklasse und Arbeiterroman ging, merkte ich bald, dass eher Verwirrung herrschte. Die Kritik in der DDR fragte im Wesentlichen danach: Was wird verhandelt? Wo ist die Fabel? Was sind es für Helden? Das mußte bei meinem Buch schiefgehen. Eine Geschichte über ihre formale Struktur, den Rhythmus, die Textur, über das Ästhetische aufzunehmen, war eher ungewöhnlich. Der gebrochene Ton wurde nicht verstanden, und man war auch nicht geübt, mit verschiedenen Ironielagen umzugehen. Zu meiner großen Überraschung war das im Westen dann ganz anders. Dabei hatte ich gefürchtet, daß mein Buch dort niemandem etwas sagen würde. Die Mutigsten, Unverzagtesten aus dem Westen kamen höchstens einmal bis Ost-Berlin – was wussten sie also von tiefster DDR-Provinz wie der Kohlegegend um Leipzig? Aber es wurde verstanden. Das lag daran, daß man es über den Ton, über die Form aufgenommen hat.

Man las es natürlich auch gerade deshalb, weil man das Land nicht kannte: als einen Bericht aus einer unbekannten Gegend.

Ja. Der Rezeption im Westen kam auch zugute, daß ich den Gegendstand selbst schon so weit wegrücke. Den Leuten in der DDR war diese Welt ja nah. Realistisch war, was nah ist. Realistisch war gewissermaßen alles. Deshalb konnte man mit dieser distanzierten Haltung hier wenig anfangen. Für die westdeutschen Leser waren diese Leben und diese Brikettfabrik gleich ein Objekt der Gestaltung. Es kam nicht durcheinander mit irgendetwas aus ihrem eigenen Leben. Für mich kommt das ja nie durcheinander.

Ihre Texte wurden im Westen auch als Beleg dafür aufgefaßt, daß die Rede von der »einen« deutschen Literatur nichts tauge. Konnten Sie damit etwas anfangen, wenn Sie als DDR-Autorin bezeichnet wurden?

Eigentlich nicht. Was würde das bedeuten?

Eine wichtige Dimension in Ihren Texten ist der Heimatbezug. Sie spielen im Erzgebirge, handeln vom Uranbergbau, vom Kohlebergbau um Leipzig. Es sind Berichte von der Gegend, in der Sie leben. Vielleicht sollte man statt DDR-Literatur eher sagen, es ist Heimatliteratur?

Ich bitte Sie! Das würden wir uns aber ganz und gar mißverstehen!

Was assoziieren Sie mit dem Begriff Heimat?

Der größte Reiz und die größte Herausforderung besteht darin, die Dinge so weit wegzurücken, daß ich sie als künstlerische Gestalt wahrnehmen kann. Da das bei ohnehin Fernliegendem keine Herausforderung ist, also auch zu keinen Erkenntnisgewinn führt, mache ich das mit dem Allernächsten, Allerintimsten. Dazu gehört natürlich auch der Raum, in dem ich lebe. Die Stilisierung von etwas, das ohnehin am Horizont liegt und von dem man nur Umrisse erkennt, bringt nichts. Mir geht es um die Dinge, von denen man überhaupt keine Gestalt erkennen kann, weil sie fast identisch sind mit dem Eigenen, mit dem Alltag.

Heimat wäre also das Aufgehen in der natürlichen Umgebung – Sich-Wohlfühlen, Gemütlichkeit, Geborgenheit. Und das sind ja auch die Ziele traditioneller, idyllisierender Heimatliteratur. Ihr Programm ist dem genau entgegengesetzt.

Ja natürlich. Mir geht es um das Gegenteil von Gemütlichkeit. Diese Art Heimatlichkeit oder Gemütlichkeit bedroht mich. Ich lebe am liebsten am Bahnhof. Sich vergewissern, wer man ist, wer man an welchem Ort ist, kann man nur, indem man die Dinge ganz weit von sich wegschiebt und versucht, ihre Form zu erkennen oder ihnen eine zu geben.

»Die Überfliegerin« beginnt damit, daß die Erzählerin ihre Lebenswelt buchstäblich abbricht: Sie reißt die Tapeten von den Wänden ihrer Wohnung, zersägt das Sofa, schickt ihren Freund weg, löst alles um sich herum auf. Das läßt sich als politische Metapher lesen, daß alles Alte nach 1989 falsch geworden ist und weggeräumt werden muss. Sehen Sie das so?

Nein. Aber geräumt muss trotzdem werden. Ich habe ja für literarische Marktverhältnisse ziemlich lange gewartet, bis ich das Thema der jüngsten Vergangenheit überhaupt literarisch angegangen bin. Das hat auch damit zu tun, daß dieses Hurtige im Besprechen und Begrifflichmachen dieser eigentlich noch gar nicht begreifbaren Vorgänge, daß diese Hurtigkeit um mich herum mich instinktiv zu besonderer Langsamkeit aufgefordert hat.

Eine Art Schockzustand?

Das würde ich nicht sagen. Im Moment der Beschleunigung lehnt man sich automatisch zurück. Durch die Trägheit. Man muß verlangsamen und Abstand nehmen, um überhaupt sehen zu können. Ich habe immer noch große Mühe mit diesem überall gegenwärtigen Geschwätz und Getön. In jedem Fahrstuhl und in jedem Geschäft ist Musik. Genauso steht auch überall etwas. Ich schaue aus dem Fenster und schon ist da an der Wand ein Plakat und es steht etwas drauf. Es dauert sicher lange, bis ich eingeübt habe, etwas zu sehen, es aber nicht zur Kenntnis zu nehmen. So lange man sinnlose und für einen selbst bedeutungslose Werbesätze liest und nicht wieder los wird, so lange verbraucht man auch eine gewisse Kapazität darauf. Das am Tag hunderttausend Mal, das erschöpft auf eine Weise, die ich mir nicht hatte vorstellen können und die auch daran schuld war, daß ich lange Zeit nur in die Luft guckte und symbolierte, wie meine Großmutter gesagt hätte. Das war einfach nötig.

Was bedeutet das fürs Schreiben?

Durch die Werbung und auch durch das politische Geschwätz, wo sich jeder mit den eindringlichsten Formulierungen hervortut, wird auch die Literatur beeinträchtigt. Worte, die vorher den Dichtern gehörten, wurden ihnen von den Werbeleuten weggenommen. Außerdem hat Literatur jetzt mit einem anderen Leser zu rechnen. Wenn ich schon beim Frühstück von acht Morden erfahre, dann werde ich kaum die Geduld aufbringen, eine Erzählung von hundert Seiten zu lesen, die auf einen Selbstmord hinsteuert. Das sind grundlegend andere Verhältnisse. Auch wenn man beim Schreiben nicht an den Leser denkt, die Verfassung der anderen Seite nimmt man trotzdem wahr. Es ist ja auch die eigene.

Manche Literaturkritiker beklagten seit Jahren stereotyp das Fehlen der literarischen Verarbeitungen der Wende. In diesem Jahr gibt es nun eine ganze Reihe solcher Bücher. Volker Brauns »Wendehals«, das »Weite Feld« von Grass, Thomas Brussigs »Helden wie wir« oder Jens Sparschuhs »Zimmerspringbrunnen«. Und eben auch Ihre »Überfliegerin«. Im Unterschied etwa Grass, der alle politischen Ereignisse der letzten Jahre auflistet, kommt bei Ihnen jedoch das Politische überhaupt nicht vor. Interessiert Sie das nicht?

In dem Sinne, wie Sie es meinen, kommt in keinem meiner Bücher Politik vor. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das Wort »DDR« in einer Geschichte unterbringen sollte. Ich habe es mal in einem langen Gedicht von Lars Gustafsson gelesen, einem schwedischen Dichter, wie er mit dem Zug durch die DDR reiste. Da taucht das Wort »DDR« auf, dazu ein paar Kühe, Weiden und bimmelnde Glocken. Nur so geht das: unter einer Glasscheibe, eingerahmt, ausgestellt, stilisiert.

Kuhwiesen sind aber nicht die DDR. Einen Staat kann man nicht abbilden und einrahmen. Für Sie muß aber alles auf der Ebene des Sichtbaren faßbar sein.

Unbedingt. Mit dem politischen Diskurs und dem Vokabular, das dazu gehört – DDR oder Stasi etc. – kann man niemanden berühren und wird selbst nicht berührt. Das Wort »DDR« löst ja nichts aus. Es ist eine unglückliche Erfindung, daß man für ein Land nur drei Buchstaben hat. Das war aber bezeichnend. Die Vorläufigkeit war mir damit immer klar. Es mußte einfach noch etwas Anders, etwas Richtiges kommen. Poesie sollte alles vermeiden, was ausschließlich eine geistige Bewegung hervorbringt. Sie muß so sinnlich-konkret sein, daß der Leser fühlt, das könnte doch fast 1958 in Dipoldiswalde gewesen sein. Sie muß eine seelische Bewegung in eine Richtung sein, die Bildräume öffnet, in denen er sich früher einmal bewegt hat. Das wäre dann DDR. Bedauerlicherweise muß man mit diesem Anspruch Abwehrkämpfe führen. Denn der normale Mensch ist von früh bis spät von Begriffen und Wertungen zugepflastert. Auch das Schreiben ist deshalb schwerer geworden als früher. Ich brauche viel mehr Klausur. Diese Region zu finden, in der ein Leser noch frei ist von all den schon längst gefällten Urteilen – die ja schon im Geschehen, schon im Fallen der Mauer gefällt und gedruckt waren – wo er noch elastisch und offen für andere Einsichten ist, das betrachte ich als die Aufgabe von Literatur.

Ist das politisch?

Ja, das halte ich für politisch. Und zwar deshalb, weil das Verhandeln von Ideen und Theorien im Zweifelsfall nicht zu Handlungen führt und fruchtlos ist, weil es den Menschen in seinem Kern überhaupt nicht getroffen hat. Er kann ein ganzes Leben lang mit diesen Phrasen herumgehen. In dem Sinne ist Literatur politisch, weil sie in der Lage ist, an einer ganz anderen Stelle zu treffen und zum Stocken zu bringen in diesen unüberlegten Verläufen.

Grass würden Sie also nicht lesen wollen? Das ist ja genau die konträre Literaturauffassung.

Mein Prinzip ist immer: Hab keine Vorurteile, denn damit kann man nichts lernen. Ich werde ihn auf jeden Fall anfangen, aber es ist eine andere Art von Literatur. Sie wird wahrscheinlich auch deshalb so häufig besprochen, weil man die Begriffe dazu gleich parat hat und nicht mit literaturkritischem Blick erst noch selbst erfinden muß. Das paßt viel besser rein in den Literaturbetrieb und wenn es so etwas gibt: in eine Wissenschaft über Künstlerisches.

Trifft auf den Literaturbetrieb also dasselbe zu wie auf die Rezeption in der DDR, daß man nämlich primär auf den Inhalt achtet?

Wahrscheinlich ist das so. Dagegen wäre auch nichts zu sagen, aber es könnte dadurch aus dem Blick geraten, daß Poesie noch etwas anderes ist. Die schnelle Verwertbarkeit und die schnelle Beurteilbarkeit ist offensichtlich gefragt. Ich wäre schon dankbar, wenn beim Schreiben über Literatur immer mal wieder auch ein Werk vorgestellt wird, das sich diesem Beurteilen entzieht. Das halte ich übrigens auch für ein Zeichen literarischer Qualität. Aus einem geschlossenen Text kann man eigentlich nichts herauslösen und beurteilen. Dagegen wehrt sich so ein Text wie ein Gedicht.

Sie beschreiben die Veränderungen seit 1989 als Veränderung der Dinge. Die Dinge werden inventarisiert. Sie verschwinden. Aber auch das Unveränderte ist anders: An der Kulisse vor dem Fenster der Erzählerin – ein weites Bahnhofsgelände, auf dem Kesselwagen hin- und herrangiert werden – hat sich nichts geändert, aber irgendwie findet das Altbekannte nun in einer seltsam fremden Welt statt. Auf der Erscheinungsebene ist die Veränderung nicht zu fassen. Was ist da geschehen?

Das ist die Frage. Auf der Begriffsebene ist es überhaupt nicht zu fassen. Auf der Erscheinungsebene ist es noch nicht zu fassen. Am ehesten ist es auf einer seelischen Ebene zu fassen.

Das heißt, nicht die Dinge haben sich verändert, sondern der Blick auf die Dinge?

Ja. Daß die Dinge im Begriff sind sich zu verändern, das ist ja etwas Sekundäres. Seit 1990 werden ununterbrochen Versuche gemacht, die Veränderungen zu benennen. Sie sind aber noch nicht zu benennen. Für mich ist das der äußerste Anreiz zum Schreiben. Ich vertraue keinem anderen Erkenntnisweg. Man kann die Veränderungen nicht mit einem Schlußpunkt, also jetzt bis Herbst 1995 fassen. Man kann sie nur als unzählige in Bewegung stehender Facetten mit den Augen verfolgen, weiter nichts. Eine Geschichte darüber müßte es schaffen, in verlaufenden Farben, in aquarellhafter Art noch in Bewegung zu sein. Nur dann nähert sich das Abbild in etwa dem Vorbild. Der Hintergrund ist ja immer auch das andere Geschriebene. Egal ob es Literatur ist oder Werbung oder Zeitungen. Je fester und unverrückbarer das ist – und fester geht es ja kaum in den Wertungen und Vorurteilen – umso leichter müßte man das Aquarellhafte, noch im Verlaufen Befindliche draufsetzen können. Das ist die Aufgabe, die ich mir stelle.

Bahnhöfe und Züge sind in Ihren Büchern ein immer wiederkehrendes Motiv. Was fasziniert Sie so daran?

Angesichts dieser anhaltenden Anziehung denke ich manchmal, daß ich vielleicht gar nicht unbedingt Schreiben müßte. Das ist eine rein ästhetische Sache. Diese Körperlichkeit, dieses Sinnlich-Konkrete hat auch eine starke erotische Wirkung. Mich regen zum Beispiel auch die Gedichte von Georg Heym an – damit ich nicht gleich sage, ich wäre lieber Bildhauerin geworden. Wenn ich eine uralte Brikettfabrik beschreibe, wie in »Das Vergnügen«, dann gehe ich ja nicht hin und sage: Die leben hier so schrecklich, jetzt mußt du endlich mal ein Buch darüber schreiben, um darauf aufmerksam zu machen. Das ist ein anderer Ansatz zum Schreiben, den ich überhaupt nicht habe. Für mich geht es um die Wirkung der Form dieser geschichtsbeladenen Körper. Ich träume manchmal auch Geschichten voraus, an denen ich lange arbeite. Ich träume sie so wie eine Skulptur, wie eine Komposition von Körpern, die ein Körper geworden sind. Immer wenn das geschehen ist, weiß ich, diese Geschichte kann ich schreiben.

Das Bahnhofsgelände in »Die Überfliegerin« ist auch symbolisch zu lesen. Es ist die Bewegung, die ständig auf der Stelle tritt. Unentwegt wird rangiert und nichts ändert sich.

Es tut sich nicht nichts. Es tut sich schon etwas, aber in einem vorgegebenen, über das Land gespannten Gleisnetz. Man weiß, wann die Züge wiederkehren. Es gibt einen Plan, keine Fahrt ins Blaue. Wenn man das Wort »DDR« aussparen will, dann ist es diese Schwere, diese alten Körper, dieses Lastende und dieses Rangieren.

Das Gegenbild dazu ist das Fliegen, das Sich-Loslösen. Nicht zufällig besteigt die Erzählerin ein Flugzeug, das immer westwärts fliegt in die USA. Ist das auch ein Ankommen in der Gegenwart, in der Vielfalt, nach dem Motto: DDR-Bürgerin reist in den Westen, erlebt endlich die weite Welt und wird glücklich?

Um Gottes Willen! Das war jetzt exakt die Formulierung, gegen die ich anschriebe, wenn ich gegen etwas anschreiben würde. Sie können es ja so nennen, und wir haben es tausendmal so gehört, aber es besagt nichts. Über diesen schwierigen, abgedroschenen Topos überhaupt noch schreiben zu können – Mauerbruch, erste Fahrt in den Westen usw. – das ist so ein abgedroschenes Ding, wie bewahren Sie da die Unschuld des ersten Mals? Wie machen das andere, die sich ununterbrochen den ganzen Medien aussetzen? Die müssen wahrscheinlich noch viel abgeschottetere Kammern haben, in denen ihr individuelles Erleben geschützt ist und wo sie nicht gesagt bekommen, du hast da mit einer Pulle Sekt auf der Mauer gestanden. Vielleicht war es genau anders. Damals als die DDR-Leute mit diesen übervollen Zügen rüberfuhren und sich in die Bananenkörbe stürzten, haben die wenigsten bedacht, warum Menschen von 50 Jahren, die in ihrem Leben schon etwas geleistet haben, sich so unbegreiflich und unsittlich aufführten. Ich hätte immer mal gerne dazwischenrufen wollen: Seht doch! Wem ist denn das mit 50 noch möglich! Diese kindliche Geste! Die DDR-Bürger hatten den Westen immer im Fernsehen gesehen, und viele wußten über die politischen Zusammenhänge besser Bescheid als mancher Kleinstadtbundesbürger. Jetzt kamen sie rüber mit dem ganzen Wissen und plötzlich riecht es anders. Es riecht anders als es in Intershops gerochen hat. Und es ist ein anderes Licht. Viel heller, die Fassaden und alles. Die Leute gucken anders. In den Schultern sind sie anders. All das sind solche Angriffe aufs Innerste, daß man überhaupt nicht mehr kontrolliert reagieren kann und überhaupt keine Muster zur Verfügung hat wie sie sich sonst im Laufe des Lebens ansammeln, so daß man immer gleich reagiert oder abwinkt. Da hat einer also mit 50 noch ein erstes Mal und da soll man ihm verzeihen, daß er sich derart blödsinnig benimmt. Die Möglichkeit, in eine kindliche Euphorie zu fallen, haben sich die meisten Menschen nicht bewahrt. Doch wenn man in neue Zusammenhänge gestellt wird, dann ergreift es eben auch die Gemüter, die eigentlich ganz und gar verbarrikadiert sind.

Und dafür steht dann das Amerika-Kapitel?

Ich will damit nicht sagen, der Ostbürger kommt in den Westen und genießt die Freiheit. Nein. Möglicherweise hätte er ein ähnliches Erlebnis auch im Orientexpress oder im Osten erleben können. Wenn sie in ein jakutisches Dorf gekommen wären – man konnte auch dorthin nie reisen – und wären dort von der jakutischen Dorfgemeinschaft mit Fisch bewirtet worden, wären sie möglicherweise in einen ähnlichen Zustand geraten. Es mußte leider so sein, daß das Flugzeug nach Westen fliegt, um nach Amerika zu kommen. Das ist mir fast schon zu deutlich. Ich hätte es auch gerne nach Norden fliegen lassen. Ich meine damit nichts. Ich will nicht sagen, der Westen macht frei. Das macht er natürlich nicht. Ob man frei ist oder nicht, das ist von innen.

Aber Reisen macht frei?

Macht weiter. Ist auf alle Fälle ein großer Schritt dorthin.

Für die Erzählerin in Ihrem Buch besteht das Freiheitserlebnis darin, daß die Dinge ihre festgefügten Bedeutungen verlieren.

Das ist einerseits eine verlockende und andererseits ein beängstigende Vorstellung. Das heißt, man gibt den Dingen eine neue Bedeutung – wir sind nun mal mit Bewußtsein ausgestattet, da kommen wir nicht drumrum. Man muß aber gleichzeitig die Kraft haben, möglichst lange zu verharren und die Bedeutungen nicht sofort wieder zu fixieren. Darauf zielt meine ganze Anstrengung: Daß ich es bestimme, wo die Dinge jetzt stehen.

Das Subjekt macht sich zu Mittelpunkt der Welt?

Nein. Das Subjekt ist ja immer Mittelpunkt der Welt. Sie sind für sich selbst der Wichtigste, das ist so eingerichtet, sonst könnten Sie gar nicht überleben. Was das für eine Übermacht ringsherum ist, das Politische und die Verwaltungsstrukturen, das ist doch zweitrangig. Die Dinge haben ja auch im Laufe der 40 Jahre DDR eine nicht von außen aufgesetzte, sondern eine mit dem Leben gewachsene Bedeutung gewonnen. Jetzt verlieren sie die. Man darf sie nicht sofort besetzen lassen, und zwar von außen besetzen lassen, wie es geschieht durch eine Manipulationsmaschinerie, die zwar nicht so zentralistisch gesteuert ist, wie wir es gewohnt waren, die aber vergleichsweise viel effektiver arbeitet.

Die Bedeutungen nicht festzulegen, ist also ein Widerstandsakt?

Ja. Ich muß jetzt Zeit haben zu begreifen, was mit mir geschieht und wer ich bin. Wenn ich mir jetzt den nächsten Mantel anziehen lasse, ist die ganze Veränderung für die Katz gewesen. Das Schönste an der ganzen Sache ist, daß jeder jetzt Gestalt gewinnt. Vorher war alles eher verdeckt. Das hatte zu tun mit der Erziehungsvorstellung in der DDR, daß man sich nicht so sehr vom anderen abheben soll. Das ist mir in meiner Kindheit sehr deutlich geworden. Wenn man in der Schule gelitten sein wollte, mußte man so sein wie der andere. Das ist nicht der Erfolg des Systems, sondern das Ergebnis des Lebens. Egal ob man dagegen war oder nicht, man hat sehr viel verinnerlicht. Die Kinder heute wollen sich auch nicht abheben und sind geschützt durch Trends, Moden, Stile. Das ist etwas spezifisch Jugendliches – auch daran erinnere ich mich. So nahm sich jeder zurück. Und heute erkenne ich erstmals jeden in meiner Umgebung. Das ist das Herausforderndste an der ganzen Veränderung. DER, DIE und ICH: wir sind jetzt klar konturiert. Es ist egal, ob angenehm oder unangenehm, schön oder gut oder hässlich, das hat damit nichts zu tun. Es annehmen zu können, ist die Aufgabe. Dazu gehört ja auch Kraft. Das Anderssein.

In Ihren Texten stellen Sie die Menschen ohne Innenleben, ohne Gefühlswelt dar. Ist das ein Schutz vor Larmoyanz? Wollen Sie den Gefühlen keine Macht geben?

Nein im Gegenteil. Es geht ja nicht darum, ob ich Gefühle darstelle oder nicht, sondern ob der, der es liest, ein Gefühl entwickelt. Meiner Meinung nach entwickelt er das umso mehr, je reduzierter die Darstellung ist. Mein Schreiben ist ganz und gar darauf ausgerichtet, daß in einem selbst eine emotionale Bewegung entsteht.

Ihre Erzählerin sagt einmal, Schmerz sei etwas, was das Handeln verhindere. Ihr geht es ja darum, aktiv werden zu können und deshalb muß sie Gefühle verhindern.

Sie ist in diesem Augenblick eine Figur, die sich in starkem Druck befindet. Die sich nicht mehr orientieren kann. Die verzweifelt nach einem Anschluß an die Geschwindigkeit durch Handlung sucht. Das ist also eine Übersteigerung. Eine Figurenäußerung. Nicht meine eigene.

Aber Ihre Ästhetik trifft sich an dieser Stelle mit der Figur. Ihre nüchterne, klare Ästhetik läßt Menschen wie die Dinge erscheinen. Sie setzen »Menschen und Dinge wie in der selben Größe nebeneinander«, heißt es im Text. Dadurch erhalten Personen eine dingliche Schärfe.

Ich bin natürlich der am wenigsten unvoreingenommene Leser der eigenen Sache. Ich schreibe Prosa wie ein Gedicht. Im Gedicht würde man viel weniger nachfragen, warum das so unverbunden nebeneinandergesetzt ist, warum diese Leerstellen und so weiter. Das Eigentliche sagen die Leerstellen. Worüber ich erzählen will, ist etwas Unsagbares. Wenn man nicht gerade sagen will, die Ostler fahren nach Westen in die Freiheit und freuen sich.

Man kann das Buch ja auch kaum nacherzählen.

Danke, das ist für mich das größte Kompliment. Ich käme sowieso nur auf die Idee, etwas das mir unbeschreibbar, unsagbar erscheint, zu schreiben. Deshalb ist es unmöglich, daß Sie das im Text finden. Sie finden es in der Dichte der Komposition, wozu auch die Reduktion gehört. Alle diese Leute, nicht nur die Ich-Erzählerin, sondern auch die anderen Figuren, sind ein Stück von sich weggetreten, sind auf der Suche oder sie vermissen sich auch bloß. Ihnen innere Biografien zu geben, entspräche nicht dem, worüber ich schreiben will. Dieses Verlorensein. Diese Offenheit. Das Offenseinwollen und gleichzeitige Verlorensein läßt sich nicht durch das Erzählen von Biografien erreichen. Man kann nur versuchen, die Ränder zu zeichnen.

Das Buch endet damit, daß die Erzählerin in Moskau auf dem Weg zum Flughafen ist. Sie erzählen nicht mehr, wie sie zu Hause ankommt. Dabei würde doch gerade das interessieren: Wie hat sich ihr Blick durch die Weltreise verändert?

Sie haben recht, das muß unbedingt weitergehen. Das müßte das nächste Buch sein. Es wäre aber zu früh gewesen, das jetzt zu schreiben. Das ist noch nicht so weit. Ich muß es noch eine Weile leben. Wir haben ja seit 5 Jahren einen Zustand, von dem keiner sagen kann: So ist es. Meine Geschichte darf das und will das auch nicht sagen. Sie muß genauso in der Schwebe sein wie unser Leben, sonst wäre es eine Lüge. Und genauso muß man sie auch aushalten.

Das wäre ja auch ein Titel gewesen: »In der Schwebe«. Denn eine Überfliegerin ist die Erzählerin ja überhaupt nicht.

Das Herausfordernde, das ich immer suche, besteht darin, gerade die schweren Dinge des Gegenständlichen, die ich so genau beschreibe, zum Schweben zu bringen. Man könnte sich ja eine Prosa vorstellen, mit dem Seidengriffel geschrieben, die ohnehin schon schwebt und solche Dinge verhandelt, die schweben. Aber Bahnhofsgüterwagen zum Schweben zu bringen oder solche Sätze wie: Der Ostler fährt in den Westen und freut sich, weil er die Freiheit hat. Das ist schwierig. Beides muß man zum Schweben bringen.